Betreiber der Kinos im Andreasstadl Josef Lommer im Interview mit Marion Santl, Leiterin Ambulante Suchthilfe, und Dr. Hermann Scheuerer-Englisch, Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern Regensburg der KJF.Burcom Regensburg
Der Film Platzspitzbaby basiert auf der gleichnamigen Autobiografie von Michelle Halbheer aus dem Jahr 2013. Hintergrund der Handlung ist die Räumung des Parks Platzspitz in Zürich. Hier fanden sich zwischen den 1980er Jahren und 1992 - behördlich toleriert - Drogensüchtige aus ganz Mitteleuropa zusammen. Nach der Beendigung der offenen Drogenszene am Platzspitz wurden die Betroffenen teilweise in ihren Heimatgemeinden untergebracht - so auch die Protagonisten des Filmes. Mia und ihre Mutter Sandrine ziehen 1995 in ein Dorf im Züricher Oberland, wo die Mutter immer wieder in ihre Heroin-Sucht zurückfällt und ihre Tochter mit hineinzieht.
Auf die Frage, wie realistisch der Film die Drogenszene und Einzelschicksale darstelle, antwortet Marion Santl, Leiterin des Referats Ambulante Suchthilfe des Caritasverbandes Regensburg, dass ein Stück weit die Realität in Drogen-Hotspots abgebildet, aber ein Extremfall gezeigt werde. Ein Film wie dieser könne zudem Stigmatisierung und Diskriminierung befördern, doch Ausgrenzung sei ein Risikofaktor für Menschen mit Suchtproblemen. Die Darstellung des Hilfesystems entspreche ebenfalls nicht den heutigen Standards. Dr. Hermann Scheuerer-Englisch ist Berater der Katholischen Jugendfürsorge. Seiner Meinung nach ist Platzspitzbaby historisch einzuordnen. Im Film werden nahezu alle Kriterien einer Kindeswohlgefährdung erfüllt wie Parentifikation, emotionaler Missbrauch und Instrumentalisierung der Tochter, vor allem aber ein instabiles Erziehungsverhalten.
"Man weiß mittlerweile, dass nur ein Drittel der Kinder von Suchtkranken heil aus der Sache rauskommen - das heißt, sie entwickeln entweder selbst eine Sucht oder erkranken psychisch", so Santl. Daher liegt die Frage nahe, ob dieser Film in Schulen als Präventionsmittel zum Einsatz kommen könnte. Hier sind sich Expertin, Experte und auch Plenum einig: Prävention durch Abschreckung könne sogar das Gegenteil bewirken. Der Film brauche als pädagogisches Mittel, so Dr. Scheuerer-Englisch, "eine gründliche Vorbereitung und Begleitung". Er könne nur in aufbereiteten Sequenzen genutzt werden, mit anschließender intensiver Diskussion - etwas, das Lehrerinnen und Lehrer im Alltag gar nicht leisten können.
Es gibt bereits Präventionsmaßnahmen, bei denen Heranwachsende lernen, wie sich eine Abhängigkeit entwickelt und "dass man keine Substanzen gebrauchen muss, um Gefühle zu regulieren, etwas aushalten zu können und sich nicht zu langweilen", erklärt Santl. Außerdem gibt es für Fälle wie Mia in Platzspitzbaby eine Jugendschutzstelle. Dr. Scheuerer-Englisch formuliert hier ein Gedankenexperiment: "Wenn Mia heute in Regensburg wohnen und in der Schule von der Jugendschutzstelle erfahren würde, könnte sie sich selbst in Obhut nehmen lassen. Viele betroffene Jugendliche machen das."
Der Film Platzspitzbaby ist hochemotional und aufrüttelnd - das bestätigen an diesem Sonntagnachmittag alle Anwesenden. Josef Lommer, Betreiber der Kinos im Andreasstadel und Moderator der Preview-Veranstaltung, spricht davon, dass der Film den Nerv des schweizerischen Publikums getroffen hat - ähnlich wie in Deutschland die Verfilmung des Buches "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo". Kritiker sagen, Platzspitzbaby besteche durch seine Natürlichkeit und seine glaubhafte Herangehensweise an das Thema Sucht - ein Grund dafür, dass er in der Schweiz 334000 Besucherinnen und Besucher in die Kinos lockte.