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Der jungen Frau war klar, dass irgendetwas mit ihrem Essverhalten nicht stimmte: Sophia M., 28 Jahre, zählte immerzu Kalorien, ein Käsebrot, 321 Kalorien, ein Stück Vollmilchschokolade, 30 Kalorien, ein Apfel, 52 Kalorien. Jeder Bissen machte ihr ein schlechtes Gewissen. Sie vermied den Blick in den Spiegel, aß tagsüber bald gar nichts mehr. Erst abends, unbeobachtet zu Hause, stopfte sie Unmengen in sich hinein. Dreitausend bis fünftausend Kalorien in kürzester Zeit. Oft erbrach sie danach alles wieder.
Sophia ist eine von vielen jungen Frauen und Männern in Deutschland, die ein Problem mit dem Essen haben. Laut Statistischem Bundesamt wurden 2015 in deutschen Krankenhäusern 8079 Menschen mit einer Magersucht und mehr als 2000 mit einer Bulimie diagnostiziert. Mehr als jedes fünfte Kind zwischen 11 und 17 Jahren in Deutschland hat ein erhöhtes Risiko, Essstörungen zu entwickeln, besagen Zahlen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). "Eine Essstörung ist nur die Spitze des Eisbergs", sagt Marion Santl, Diplom-Psychologin und Ansprechpartnerin für Menschen mit Essstörungen bei der Caritas-Fachambulanz für Suchtprobleme in Schwandorf. "Wer freiwillig hungert oder an Essattacken leidet, versucht damit, seelische Probleme zu lösen."
Jahrelang verbarg Sophia M. ihr gestörtes Essverhalten. Doch irgendwann kreisten ihre Gedanken nur noch ums Essen oder Nicht-Essen, ihre Konzentration im Job ließ nach, ihre Freunde vernachlässigte sie. Die junge Frau hütete ihr Geheimnis solange bis sie ganz alleine damit war. Da gestand sie sich ein, dass sie Hilfe brauchte – und holte sich Rat bei Marion Santl. Für Sophia war dies ein Befreiungsschlag. Sie wird später zu ihrer Beraterin sagen: "Es war die beste Idee seit langem, dass ich zu ihnen gekommen bin." Der Schritt in die Beratung ist für viele bereits der Wendepunkt, weiß Marion Santl, die junge Frauen und Männer ab 18 Jahren berät. "Wer sich eingesteht, dass etwas nicht stimmt, ist auch bereit, etwas zu verändern", sagt die Expertin. Meistens werde sie per E-Mail oder Telefon erstkontaktiert, danach vereinbare sie ein persönliches Gespräch. "Erst höre ich zu. Damit löst sich schon vieles auf", sagt Santl. Die Beraterin erfasst die Art der Essstörung, deren Schweregrad sowie den seelischen und körperlichen Zustand des Betroffenen. Zudem informiert sie über die verschiedenen Formen der Erkrankung und sie unterstützt bei der Suche nach weiterführenden Hilfen: Ist eine Ernährungsberatung, eine ambulante Therapie oder doch ein Klinikaufenthalt das Richtige? In Sophias Fall notierte die Beraterin "atypische Bulimie". Die Betroffene entschied sich für eine Psychotherapie und eine professionelle Ernährungsberatung. "Sie ist einen super Weg gegangen", sagt Santl. "Sie hat es geschafft, aus dem alten Fahrwasser herauszukommen."
Marion Santl, Diplom-Ppsychologin und Ansprechpartnerin für Menschen mit Essstörungen bei der Caritas-Fachambulanz für Suchtprobleme in SchwandorfCaritas Regensburg
Nicht nur Betroffene, sondern auch deren Angehörige, Lehrer oder Freunde kommen zu Marion Santl in die Beratung. Zuletzt konsultierte sie die Mutter eines pubertierenden Mädchens. Die Tochter aß sehr wenig, trieb exzessiv Sport, magerte ab. Diagnose: Magersucht. Das Mädchen musste in eine spezielle Klinik, um den richtigen Umgang mit dem Essen und das Annehmen ihres Körpers wieder zu erlernen. Die Mutter hatte lange Zeit nichts von der Erkrankung ihrer Tochter gemerkt. "Für Eltern, Freunde und auch für die Betroffenen selbst sind die Anzeichen, die auf eine Essstörung hindeuten, oft schwer zu erkennen", sagt Santl. Essstörungen entstehen nicht von heute auf morgen, sie entwickeln sich. "Die Übergänge von einer merkwürdigen Essweise zu einer krankhaften Störung sind fließend." Wer jedoch seltsames Essverhalten wie häufiges Diäthalten und Kalorienzählen oder starke Gewichtsschwankungen bei Freunden oder Verwandten bemerkt, sollte sich nicht scheuen, das Problem anzusprechen. Santl empfiehlt eine fragende, keine vorwurfsvolle Haltung gegenüber Betroffenen.
Die Gründe für eine Essstörung sind so vielfältig wie die Menschen, die sie haben. Experten nennen einerseits gesellschaftliche Gründe, wie falsche Schönheitsideale oder den vorgelebten Schönheitswahn der Modeindustrie. Andererseits spielen auch persönliche Faktoren wie Perfektionismus, ein geringes Selbstwertgefühl sowie das soziale und familiäre Umfeld eine Rolle. Eine aktuelle Studie der Universität Duisburg-Essen legt nahe, dass auch genetische Faktoren Essstörungen verursachen können. Bei all der Komplexität, was die Ursachen der Krankheit angeht, ist für Marion Santl doch eines klar: Wer zu ihr kommt, ist auf der Suche nach einem erfüllteren Leben. Dazu zählt, zu essen, wenn man hungrig ist, und damit aufzuhören, wenn man satt ist. Sophia M. hat es dank der beratenden Hilfe geschafft.
Zusatzinfo 1: Arten von Essstörungen
Es gibt verschiedene Formen, die ineinander übergehen können. Die drei typischsten sind:
– Magersucht: Magersüchtige sind auffallend dünn, wenn die Störung bereits einige Zeit besteht. Der extreme Gewichtsverlust, den die Betroffenen selbst herbeiführen, ist ein wichtiges Kennzeichen der Krankheit. Nicht immer merken Eltern, Freunde sowie Lehrer das Abnehmen. Kinder und Jugendliche nehmen fast immer ab, indem sie zunächst weniger essen, extrem viel Sport treiben oder beides tun. Bei 60 Prozent der Magersüchtigen wird die Dauerdiät im Laufe der Zeit durch Essattacken unterbrochen. Magersüchtige nehmen ihren Körper nicht mehr realistisch wahr. Sie fühlen sich zu dick, obwohl sie es objektiv gesehen nicht sind.
– Bulimie oder Ess-Brech-Sucht: Menschen mit einer Bulimie haben eine krankhafte Furcht, dick zu werden. Sie wirken meist sehr gepflegt, sind schlank und sportlich. Nach außen hin funktioniert alles perfekt. Unter Leuten essen die Betroffenen kontrolliert und vorwiegend kalorienarme Lebensmittel. Ihre Essattacken, die kennzeichnend für die Bulimie sind, passieren heimlich. In kurzer Zeit schlingen sie dabei große Mengen, vor allem kalorienreiche Nahrung, hinunter. Diesen Heißhungeranfall machen sie durch Erbrechen ungeschehen.
– Binge-Eating-Störung: Diese Form der Essstörung ist noch am wenigsten erforscht. Ihr charakteristisches Kennzeichen sind Essanfälle. Dabei werden viel zu große Portionen auffallend schnell hinuntergeschlungen. Im Gegensatz zur Bulimie erbrechen die Betroffenen danach nicht. Das Risiko ist daher groß, dass Menschen mit einer Binge-Eating-Störung übergewichtig werden.
(Quelle: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung)
Zusatzinfo 2: Selbstcheck: Habe ich eine Essstörung?
- Lehnen Sie Ihren Körper als "zu dick" ab?
- Kreisen Ihre Gedanken vor allem ums Essen und um Ihre Figur?
- Haben Sie ständig Angst, zu viel zu essen und zuzunehmen?
- Kontrollieren Sie Ihr Gewicht streng?
- Vergleichen Sie sich ständig mit anderen, Ihnen schlanker erscheinenden Menschen?
- Essen Sie streng nach Diätplänen und verbieten sich spontanes lustvolles Essen?
- Erwarten Sie ständig mehr von sich und greifen bei Misserfolgen zum Essen?
- Ist Essen für Sie eine Ersatzhandlung?
- Erscheinen Ihnen winzige Mahlzeiten als üppig?
- Verspüren Sie weder Hunger- noch Sättigungsgefühl?
- Leiden Sie an hemmungslosen Essanfällen?
- Verlieren Sie beim Essen die Kontrolle?
Falls Sie viele der Fragen mit "Ja" beantwortet haben, sollten Sie sich Hilfe suchen.
(Quelle: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung)
Zusatzinfo 3: Kontakt und Hilfe
Caritas Fachambulanz für Suchtprobleme Cham, Klosterstraße 13, 93413 Cham: Claudia Streit, unter der Telefonnummer (09971) 84 69 15 oder per E-Mail an info@suchtambulanz-cham.de
Fachambulanz für Suchtprobleme, Ettmannsdorfer Straße 2-4, 92421 Schwandorf: Marion Santl, Telefon 0 94 31/ 998 06 80 oder per E-Mail: beratung@suchtambulanz-schwandorf.de.
Caritas Fachambulanz für Suchtprobleme in Tirschenreuth, Ringstraße 55, 95643 Tirschenreuth: Julia Rupprecht, unter der Telefon-Nr. (09631) 79 89 10 oder per E-Mail an beratung@suchtambulanz-tirschenreuth.de
Caritas Fachambulanz für Suchtprobleme in Weiden, Nikolaistraße 6, 92637 Weiden: Alicja Florko-Broschak, unter der Telefonnummer (0961) 389 14 33 oder per E-Mail an beratung@caritas-suchtambulanz-weiden.de
Die Beratung ist kostenfrei und für Personen ab 18 Jahren.