Lisa Pfeiffer, Psychologin bei der Beratungsstelle Horizont – Hilfe bei SuizidgefahrSchophoff
Regensburg. Zum Welttag der Suizidprävention am 10. September lenkt die Caritas den Blick auf ein oft stilles Leid: das Trauma von Hinterbliebenen und Betroffenen nach einem Suizid. Eine Mutter erzählt, wie sie nach dem Verlust ihres Sohnes ins Leben zurückfand - unterstützt von der Beratungsstelle Horizont der Caritas und Diakonie.
Renate legt beide Hände auf ihre zitternde Brust, als müsse sie ihr Herz festhalten, damit es nicht zerspringt. Ihr Atem überschlägt sich, stößt heiser hervor. Ein körperlicher Versuch, das Unfassbare für Außenstehende begreiflich zu machen: Die Atemnot, das Entsetzen, der Schmerz an diesem Tag über die Erkenntnis: Ihr Sohn hat sich das Leben genommen.
An jenem Nachmittag vor einem Jahr, der Renates Leben und das vieler anderer für immer in ein Davor und ein Danach zerriss, füllte sich ihr Haus mit fremden Stimmen: Feuerwehrleute, Sanitäter, später die Polizei. Sie alle kamen wegen Kilian, ihrem 26-jährigen Sohn, der die Tür zu seinem Zimmer verriegelt hatte - in einem Zuhause, in dem zuvor niemand auf die Idee gekommen war, hinter sich zuzuschließen. In dem Moment, als Renate die Türklinke niederdrückte und die Tür nicht wie gewohnt nachgab, wusste sie, dass es passiert war.
Renate erinnert sich daran, wie sie in der Küche saß und in ihrer Machtlosigkeit die Fremden beobachtete, die durch ihr Haus liefen. Feuerwehrleute gaben Befehle, Sanitäter schrieben Protokolle, die Polizei erklärte Kilians Zimmer zu einem Tatort. "Ich durfte nicht mehr zu meinem Sohn, aber alles in mir zog mich zu ihm. Ich bin doch seine Mutter", erzählt Renate.
Der 10. September, der Welttag der Suizidprävention, macht deutlich: Suizid ist kein Randthema. Er kann Menschen in allen Lebenslagen betreffen - und ist dennoch oft tabuisiert. Angehörige, die einen geliebten Menschen durch Suizid verloren haben, brauchen schnell erreichbare Hilfe, "denn ohne diese laufen Betroffene Gefahr, in Isolation und Verzweiflung zu geraten", so Lisa Pfeiffer, Psychologin bei Horizont.
"Jeder, aber doch nicht der Kilian", sagten alle im Nachhinein berichtet Renate: Alle, die ihn kannten, stimmen zu: charismatisch, offen, empathisch. Selbstbewusst. Klar in seinem Lebensweg. Studierend, Veganer aus Überzeugung, leidenschaftlich im Bodybuilding - "aber auf gesunde Art und Weise!", betont seine Mutter. Als müsste sie noch immer eine Rechtfertigung gegenüber all jenen finden, die den einen Grund für seinen Suizid suchen. Den Renate, Kilians Vater und Bruder und Freunde und Bekannte seit diesem Nachmittag vor einem Jahr suchen. Doch diesen einen Grund gibt es nicht. Und gäbe es ihn, würde er niemandem helfen. Denn Kilian ist tot. Die Frage, die für viele Zurückgebliebenen bleibt, ist: Wie kann ich weiterleben?
In Einzelgesprächen bei der Beratungsstelle Horizont der Caritas und der Diakonie in Regensburg fand Renate Halt für ihr eigenes Leben. "Ich musste akzeptieren, dass der Suizid meines Sohnes nun ein Teil meines Lebens ist", erzählt die 57-jährige Mutter.
Im Zentrum der Beratungsarbeit von Horizont steht, dass die neue Realität ohne die geliebte Person Schritt für Schritt angenommen werden kann. Diese Akzeptanz sei ein sehr persönlicher Prozess und brauche Zeit, erklärt Pfeiffer. Hinterbliebene stünden dabei vor quälenden Fragen - warum es geschehen ist, wie das eigene Leben weitergehen kann - und würden von Gefühlen wie Ohnmacht, Scham, Wut oder tiefer Verzweiflung begleitet.
Wie dringend niederschwellige Beratungsstellen wie Horizont gebraucht werden, zeigen die Zahlen des Nationalen Suizidpräventionsprogramms (NASPRO): 10.304 Menschen starben 2023 in Deutschland durch Suizid. Über 61.000 Menschen verloren dadurch einen nahestehenden Angehörigen. Weit über 100.000 Menschen unternahmen einen Suizidversuch. "Damit sterben hierzulande mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Mord und Totschlag, illegale Drogen und AIDS zusammen", so steht es auf der offiziellen Website der NASPRO.
Neben Einzelgesprächen bietet die Beratungsstelle auch eine begleitete Trauergruppe an, in der Menschen miteinander ins Gespräch kommen und erfahren: Sie sind nicht allein. Dort konnte Renate ihre Trauer teilen, verarbeiten und Schritt für Schritt neue Kraft schöpfen. "Ich habe dort Menschen getroffen, die mich verstehen - weil sie Ähnliches erlebt haben. Das hat mir das Leben gerettet", erzählt sie.
Renate spricht über ihre Geschichte, weil sie überzeugt ist, dass Suizid jeden treffen kann. "Bitte reden wir darüber! Suizid existiert - und im Laufe eines Lebens klopft er an viele Türen. Wir dürfen nicht länger schweigen", appelliert sie.
Kompetente Hilfe für Betroffene und Angehörige
Angehörige und andere Bezugspersonen sind in Fällen von suizidalen Äußerungen oft überfordert. Rechtzeitige professionelle Hilfe und das Wissen um Hilfsmöglichkeiten können Leben retten. Die Beratungsstelle Horizont ist eine psychologische Beratungsstelle für Suizidprävention. Sie bietet seit 1987 professionelle Hilfe für Menschen in einer akuten suizidalen Krise sowie aus deren Umfeld. Kostenlos und vertraulich. Eine ärztliche Überweisung ist nicht erforderlich. Es gibt keine längeren Wartezeiten. Wir behandeln jedes Anliegen vertraulich. Nach einem ausführlichen Erstgespräch können weitere Termine vereinbart werden.
Beratungsstelle Horizont - Hilfe bei Suizidgefahr : 0941/5 81 81
Für eine Terminvereinbarung erreichen Sie das Sekretariat zwischen 8:30 und 12 Uhr von Montag bis Freitag.
Krisendienst Bayern: 0800/655 3000
Die Krisendienste Bayern sind in ganz Bayern erreichbar und beraten telefonisch und rund um die Uhr in über 120 Sprachen.
Die nächste angeleitete Trauergruppe für Angehörige nach Suizid beginnt voraussichtlich im November.
Jährlich am Volkstrauertag, der dieses Jahr auf den 16. November fällt, findet um 17 Uhr ein Wortgottesdienst für Angehörige nach Suizid statt. Aktuelle Infos finden Sie auf der Website www.beratungsstelle-horizont.de